Wilhelm Widmann lebte in Offenbach von 1913 bis 1955. Hier arbeitete und kämpfte er für Freiheit und Demokratie, gegen Not und Armut und für soziale Gerechtigkeit. Engagiert stritt er gegen die Feinde der jungen Republik von links und rechts. Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre setzte er sich im Landtag immer wieder heftig mit den Nazis auseinander; Folge: Nach ihrer Machtübernahme schleppten ihn die Nazis ins KZ Osthofen.
Trotz des vollen Einsatzes für seine Ideale erinnert sich in Offenbach kaum jemand an ihn. Kein Denkmal, keine Brücke, keine Straße trägt seinen Namen. Bei der Spurensuche nach anderen Abgeordneten seiner Zeit wie Ulrich, Kaul oder Eißnert stieß ich immer wieder auf den Namen Wilhelm Widmann. Also stellte sich die Frage: Wer war dieser Mann? Erste Antworten gab sein Enkel Günther Geh.
Auf der SPD-Vorschlagsliste für die Wahl zur verfassunggebenden Volkskammer stand Widmanns Name auf Platz 29.[1] Damit war er war einer von fünf Offenbachern, die am 27. Januar 1919 in die Volkskammer des Volksstaates Hessen (Darmstadt) gewählt wurden. Bis 1933 war er im Landtag ein sehr engagierter Sprecher.
Die Sprechregister und Wortlautprotokolle der Hess. Volkskammer bzw. des Landtages waren deshalb die wichtigen Quellen. Weitere Quellen fanden sich im Offenbacher Stadtarchiv, im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt, in der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt und im Archiv der sozialen Demokratie in Bad Godesberg; auch im Offenbacher Abendblatt, der sozialdemokratischen Tageszeitung, fanden sich zahlreiche Hinweise auf Widmanns Arbeit.
Wilhelm Widmann wurde 30. Dezember 1876 in Esslingen geboren. Er erlernte bei WMF den Beruf des Gürtlers. 1892 trat er mit 16 Jahren dem Metallarbeiterverband (DMV) bei und wurde Mitglied im örtlichen Sozialdemokratischen Verein.
Gegen Ende des Jahrhunderts wanderte er nach Amerika aus, kehrte aber nach drei Jahren nach Deutschland zurück.
[1] S. Offenbacher Abendblatt (OA) 30.1.1919
1906 wurde er Angestellter des Metallarbeiter-Verbandes (DMV) in Göppingen. Über seine emsige Arbeit informiert der Geschäftsbericht von 1910 (oder 1912), (den Widmann wohl selbst verfasst hat). Er verzeichnet:
36 Ausschusssitzungen,
4 Vertrauensmännersitzungen,
21 Werkstatt-Vertrauensmännersitzungen,
13 Mitgliederversammlungen,
12 Versammlungen in Ortschaften und
36 Werkstattversammlungen.
Kritisch vermerkt Widmann: „Leider sind Mitgliederversammlungen immer schlecht besucht, was ein großes Interesse an der Organisation vermissen lässt. Die Verwaltung ist bestrebt, die
Versammlungen so interessant wie möglich zu machen und scheut weder Mühe noch Kosten, das Neueste und Wissenswerteste insbesondere von der sozialen Versicherungsgesetzgebung zu bieten.“
Umfangreich gestaltete sich die Korrespondenz. Insgesamt gingen 2.349 Postsendungen heraus: 510 Briefe, 210 Postkarten, und 1629 Drucksachen. Fünfmal wurden Flugblätter verteilt: Auflage 4000. An Vergnügungen wurden abgehalten: Ein Ausflug nach Geislingen, wo man mit den Kollegen aus Heidenheim und Geislingen zusammentraf und nachmittags einem Konzert lauschte. Ferner gab’s einen Tanzausflug nach Uhingen.
Am 29. März fand in Stuttgart eine Protestversammlung gegen den Gesetzentwurf über die Arbeitskammer statt, zu der die Kollegen Reichmann, Huttelmeier und Widmann delegiert waren. Am 3. Mai fand im Stuttgarter Gewerkschaftshaus eine Konferenz der Verbandsfunktionäre Baden-Württembergs statt, an welcher die Kollegen Reichmann und Widmann teilnahmen. Auch seine ersten Erfahrungen mit der Kommunalpolitik machte Widmann in Göppingen: Am 9.12.1907 wurde er zum Mitglied des Gemeinde-Rats gewählt. Am 12.12.1910 wurde er Mitglied des Bürgerausschusses. Am 22.8.1913 schied er durch Wegzug aus.
Das hatte seinen guten Grund: In Offenbach wurde Widmann Agitationsleiter des DMV, wo er mit Wilhelm Weber, dem späteren Landtags- und Reichstagsabgeordneten, eng zusammenarbeitete. Über seine Arbeit hier gibt es allerdings weder in Offenbach, noch im Archiv der sozialen Demokratie so genaue Angaben wie aus Göppingen. 1918/19 gehörte er in Offenbach dem Arbeiter- und Soldatenrat an. Jedenfalls ist sein Name im Protokollbuch des Arbeiter- und Soldatenrates zu finden.
Bald kam eine neue Herausforderung auf ihn zu: Nach einem Bericht des Offenbacher Abendblatts vom 2.12.1918 tagte am Sonntag, dem 1. Dezember um 10 Uhr im Rheinischen Hof eine Kreiskonferenz der SPD Offenbach-Dieburg, die nach Ansprachen von Carl Ulrich und Georg Kaul, sich mit der Wiederbesetzung des Sekretärpostens befasste. Vorsitzender Grünmeyer begründete die Forderung mit der gestiegenen Arbeit und den Anforderungen, die die kommende Zeit bringe. Der Krieg habe so viel zerstört, was wieder aufgebaut werden müsse. Die Diskussion ließ erkennen, dass die Notwendigkeit der Forderung allgemein anerkannt wurde. Bedenken wurden nur von Mühlheimer Delegierten erhoben, die eine Ausschreibung der Stelle verlangten. Gegen 7 Stimmen wurde der Antrag abgelehnt. Vom Kreisvorstand wurde Wilhelm Widmann zur Wahl empfohlen. Bevor die Wahl vorgenommen wurde, erhielt Wilhelm Widmann das Wort zu einem Referat über die Agitation im Kreise, in dem er den organisatorischen Aufbau der Partei beleuchtete. Dabei sei die Mitarbeit eines jeden erforderlich! Starke Kreise der Landwirtschaft seien der SPD zugänglicher geworden. Für die Agitation auf dem Lande gab Widmann dann praktische Hinweise. Er warb für den Ausbau des Vertrauensmännersystems in den Betrieben. Neben der Gewinnung von neuen Mitgliedern müsse die Ausbreitung der Parteipresse im Auge behalten werden. Auch die Jugend müsse unter neuen Gesichtspunkten gewonnen werden. Die dann vorgenommene Wahl des Kreissekretärs ergab bei 40 abgegebenen Stimmzetteln 33 Stimmen für Wilhelm Widmann und 7 Stimmen für Reuter-Rumpenheim. Im Offenbacher Abendblatt vom 27. Januar 1920 beschrieb Widmann seine wichtigste Aufgabe als Parteisekretär: die Wahlkampforganisation! Detailliert erläuterte er die Regeln zur Kreis- und Provinzialtagswahl am 1. Februar 1920. Das war nötig, denn die große Zahl der Wählerinnen war erst seit einem Jahr wahlberechtigt.
Seinen Genossen schrieb Widmann ins Gewissen: „Wahlrecht ist Wahlpflicht!“ Man müsse alles daransetzen, dass die SPD mit einem guten Resultat abschneide, denn schlechte Wahlbeteiligung nütze nur den Gegnern von rechts und links. Am Wahltag hätten alle Privatvergnügen zurückzutreten hinter der Arbeit für die Partei. Mit warnend erhobenem Zeigefinger fügte er hinzu: „Schon arbeiten Gegner insbesondere von rechts mit der Behauptung, das Volk wolle ja gar nicht wählen, sondern seine Ruhe haben!“ Wer also sein Wahlrecht nicht ausübe, bestärke den Gegner in seiner falschen Meinung und arbeite damit der Reaktion in die Hände, die auf der Lauer sei, die Errungenschaften der Revolution wieder zu vernichten; wörtlich „wer will, dass die Reaktion rechts und die Diktatur von links bekämpft wird, wer für Volksrechte und Volksfreiheit eintritt, der hat die Verpflichtung, bis zum Wahltag unermüdlich zu arbeiten! Der Parteivorstand: Wilhelm Widmann“.
Dieser Parteisekretär nahm seine Parteipflichten ernst. Dazu gehörte sicher, in zahllosen Versammlungen der Ortsvereine zu sprechen. Am 17. April 1919 spricht er z.B. in einer gut besuchten Versammlung im Saalbau über das „Notgesetz in Hessen“. Weil Gesetz und Recht Grundlagen für den Staat seien, könnten auch nach der Revolution von 1918 die Volksvertreter nicht anders, als sofort durch Gesetze Ordnung zu schaffen. Zwar sei die „Notverfassung“ noch nicht befriedigend und nicht alles, was Arbeiter sich wünschten, aber jedenfalls habe die Notverfassung Gesetzeskraft erlangt, und damit die alten Verfassungs-Artikel ungültig gemacht.
So energisch stürzte sich Widmann in seine Arbeit, dass er bei der Wahl zur Volkskammer im Januar 1919 auf die Liste gesetzt und prompt gewählt wurde. Bei der Fülle der Aktivitäten lässt sich nicht alles nachvollziehen, was der überzeugte Demokrat in diesen politisch ungeheuer spannenden Zeiten geleistet hat. Nur zwei weitere Beispiele: Am 30. Januar 1920 kündigt das Abendblatt eine Wählerversammlung in Dietesheim an; als Referent wird der Volkskammerabgeordnete Widmann angekündigt; Thema: Die Kreis- und Provinzialtagswahlen. Am 31. März 1920 schreibt das Abendblatt über eine Parteiversammlung in Rumpenheim, Widmann habe zum Thema „die Lehren des reaktionären Putsches“ geredet (gemeint ist der Kapp-Putsch).
Fast selbstverständlich, dass Wilhelm Widmann, dieser tüchtige Kreissekretär im Februar 1920 vom Landesvorstand ins Auge gefasst wurde, als sein Kollege Herrmann Neumann, der bisherige SPD-Landessekretär als Ministerialdirektor nach Darmstadt ging. Es war keine Überraschung für Abendblatt-Leser, am 12. Februar 1920 zu lesen, dass der Landesvorstand Wilhelm Widmann mit der Führung der Geschäfte des Landesverbandes betraut habe.
Gleich eine Woche später lädt Widmann in seiner neuen Funktion zu Funktionärskonferenzen in Offenbach und Dieburg ein. Da soll noch ein zweiter Landessekretär gewählt werden, der für die Kassengeschäfte zuständig ist. Gewählt wird Anton Dey Mühlheim, (nach 1945 dort Bürgermeister).
Am 22. März 1920 berichtet das Abendblatt, dass beim Hess. Jugendtag (wohl der Arbeiterjugend) im Darmstädter Gewerkschaftshaus Ludwig Pfeifer, Bieber, (in den 60er Jahren Dieburger Landrat) und als Vertreter der Älteren Wilhelm Widmann und Wilhelm Leuschner in den Landesvorstand gewählt wurden.
So sehr häufen sich Meldungen und Berichte aus dem Alltag dieses fleißigen Mannes, dass hier nicht alle zu nennen sind. Zu erwähnen ist aber doch noch, dass er in den Jahren 1922 bis 1925 Stadtverordneter in Offenbach am Main war.
Nächste wichtige Quelle, ist der Jahresbericht der SPD-Landesorganisation Hessen aus dem Jahr 1928. Er blieb erhalten, weil die Stapo 1935 diese Broschüre dem Stadtarchiv stiftete. Wie sie von dort nach dem Krieg wieder in die Herrnstraße gelangte, ist nicht bekannt. Immerhin fand sie sich im Keller des SPD-Büros unter einem Stapel alter Plakate. Dieser Bericht macht deutlich, dass Widmann neben seiner Hauptarbeit als Landessekretär und Landtagsabgeordneter auch Vorsitzender des Landesbildungsausschusses der SPD sowie Vorsitzender des Sozialistischen Kulturbundes war. Der Jahresbericht verrät weiter, dass Widmann in diesem Jahr als Delegierter der hessischen SPD an einem Internationalen Kongress in Brüssel teilnahm und den hessischen Landesverband im SPD-Parteiausschuss in Berlin vertreten hat. Auch geht aus dem Bericht hervor, dass der Landesparteitag in Michelstadt wider Erwarten sehr stark besucht war, von 191 Delegierten aus 156 Orten und dass man die Anwesenheit so vieler Referenten genutzt habe, 20 öffentliche Volksversammlungen im Odenwald abzuhalten.
Ein Blick auf Widmanns Abgeordnetenarbeit zeigt: In der Hess. Volkskammer (VKH), die im Januar 1919 gewählt wurde, spielte der Abgeordnete Widmann von Anfang an eine aktive Rolle. So brachte er zusammen mit anderen Abgeordneten Anträge zu aktuellen Themen ein, z.B. mit Eißnert einen Antrag auf Aufhebung des Gesetzes über die Stempelsteuer, ein Thema, das den Abg. Ulrich schon ein Jahrzehnt vorher in der II. Kammer beschäftigte. In der Haushaltsdebatte der Volkskammer Hessen 1919 brachte er im Dezember–zusammen mit Eißnert – den Antrag ein, die Fahrrad-Steuer abzuschaffen. Dieser Antrag entsprach einer Eingabe des Arbeiter-Radfahrer-Bundes „Solidarität“ in Offenbach. Obwohl Widmann und Eißnert wortreich für ihren Antrag fochten, verfiel dieser der Ablehnung; Grund: der Finanzminister hatte die Ablehnung empfohlen unter Hinweis auf die besondere finanzielle Notlage nach dem Krieg.
Dies entmutigte Widmann jedoch keineswegs auch in den folgenden Jahren Sachanträge zu aktuellen Themen ein zu bringen. Nach Eißnerts Ausscheiden aus der Volkskammer wurde Widmann Sprecher seiner Fraktion in Haushalts- und Finanzfragen – obwohl der Schwerpunkt seiner Interessen eigentlich bei Kulturfragen lag, also z.B. Volksschulgesetz, Lehrerbildung, Förderung von Theatern und Hochschulen.
Von besonderer Bedeutung sind die Landtage von 1927-33. Im 4. Landtag (27-31) saßen für die SPD die Offenbacher Ulrich, Kaul, Widmann und Weber, für die KPD Heiner Galm. Unter den SPD-Abgeordneten waren der geborene Offenbacher Heinrich Ritzel, damals Bürgermeister in Michelstadt, später MdR und ab 1949 MdB. Am Anfang der Wahlperiode überwogen noch Sachanträge. Nach und nach wurde jedoch die sachliche Diskussion von parteipolitischer Polemik verdrängt. Widmann bringt sich mit solchen aktuellen Anträgen in die Debatte ein:
* Winterhilfe für die notleidende Bevölkerung
* Wirtschaftsbeihilfe für Arbeiter der Staatsbetriebe
* Maßnahmen zur Sicherung der Existenz älterer Arbeiter und Angestellter
* zum Wohnungsbau und Mieterschutz
* zur Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosenfürsorge
* mit vielen Einzelanträgen zu den Haushaltsplänen
* zum Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden und schließlich
mit der Drucksache betr. die Neureglung der Abfindung des Großherzogs. Mit diesem Antrag fordert Widmann angesichts der allgemeinen Notlage des Volkes, die Kürzung der Bezüge des Großherzogs.
Mit einer Anfrage nach angeblicher Begnadigung von Mitgliedern der nationalsozialistischen Landtagsfraktion zieht er sich deren Hass zu.
Als Vorsitzender und Berichterstatter des Finanzausschusses leitet Widmann häufig die Haushaltsberatungen ein und schreibt sich damit immer wieder ins Sprechregister des Landtags ein. In seiner Rede kritisiert Widmann die Haltung der DVP zum Flaggenstreit (DVP: „... wir halten unentwegt fest an den Farben schwarzweißrot!“). Dagegen Widmann: „...die Arbeiterschaft bekennt sich zu schwarzrotgold und seinem Endziel: der Farbe rot!“ Widmann: „Ich sehe im parlamentarischen System die einzige Möglichkeit einer befriedigenden Lösung der Schwierigkeiten in der Wirtschaft.“ Zu Zwischenrufern erklärt er: „ Diktaturen haben stets nach ganz kurzer Zeit versagt! Wir sahen es bei Napoleon, wir werden es bei Mussolini erleben und bei den Diktatoren in Moskau!“
Im V. Landtag, gewählt am 15.11.1931 hatten sich die Mehrheiten drastisch verändert. 10 Abgeordneten des Zentrums, 15 der SPD, 10 der KPD saßen 27 Abgeordnete der Liste Hitler gegenüber. Hinzu kamen noch 6 Abg. von Splitterparteien wie Landvolk, DVP, Deutsche Staatspartei, SAP und KPO.
Widmann war jetzt nur noch stellv. Vorsitzender des Finanzausschusses, Kaul saß noch als Vertreter des Landtags im Staats-Gerichtshof. Die Regierung Adelung amtierte geschäftsführend. Die Mehrheit des Landtags war weder koalitions- noch regierungsfähig.
In der zweiten Sitzung des Landtags am 11. Dezember 1931 geriet Innenminister Leuschner ins Kreuzfeuer der Nazis. Widmann sprang seinem Parteifreund bei und kam dabei selbst unter Beschuss. In der Diskussion über Anträge zur Winterbeihilfe geriet Widmann mit Kommunisten und Nazis aneinander, die sich mit Anträgen zu überbieten suchten.
Im VI. Landtag (1932 bis 1933) saßen links KPD 7, SAP 1, SPD 17, in der Mitte das Zentrum mit 10 und rechts 1 Deutschnationaler, 2 Vertreter der Deutschen Einheitsliste und 32 NSDAP-Leute!
Sachargumente gingen unter in einer Flut von populistischen, polemischen Anträgen. So finden sich denn auch nur noch wenige Sachanträge Widmanns zwischen Juli 1932 und Januar 1933. Seine Antragsthemen wie Finanzausgleich oder Fürstenabfindung hatten keine Chance einer sachgerechten Behandlung.
In der 2. Sitzung des Landtags vom 8. Juli 1932 sprach Widmann über die Bedeutung der Verfassung. Den Nazis hielt er vor: In jedem anderen Land hätten Staatsbürger Achtung vor ihrer Verfassung, es sei unmöglich, dass ein Mann sich hinstelle und in derart verletzender und böswilliger Art über die Verfassung rede. Unbeirrt von Zwischenrufen der Nazis sang Widmann ein Loblied auf die Weimarer Verfassung, die in der Geschichte fortleben werde, wegen ihrer hohen kulturellen Gedanken werde sie die nationalsozialistische Bewegung überleben. Daher werde die SPD-Fraktion alle Anträge ablehnen, die auf Abschaffung des Verfassungstages abzielten.
In der 3. Landtagssitzung am 28. Juli 1932 nahm Widmann Innenminister Leuschner erneut gegen Anwürfe der Nazis in Schutz, weil „Minister Leuschner seine Aufgaben so erfüllt hat, wie es im Interesse des öffentlichen Wohls gelegen ist.“ Dem Minister gab er den Rat, gegen SA und SS, die aus dem Hinterhalt brutal Leute überfallen, niederschießen usw. ganz entschieden und noch energischer einzuschreiten.
Widmann zitierte einen Bericht der Frankfurter Zeitung vom gleichen Tag aus Berlin, wonach dort ein Lastwagen angehalten wurde, in dem 25 Nazis in Uniform und zum Teil in Zivil waren. Dabei wurde folgendes Material gefunden:
* 4 Armeepistolen, 1 Trommelrevolver, 2 Stahlruten, * 1 Gummiknüppel, 1 Totschläger und 13 faustgroße Feldsteine, dazu fast 100 Schuss Munition. Widmann: „Das ist die Methode des 3. Reichs! Wir haben nie mit gleichen Methoden geantwortet, weil wir den Kampf mit dem alten Schlachtruf führen: Nicht mit dem Rüstzeug der Barbaren, mit Flint und Speer nicht kämpfen wir. Es führt zum Sieg der Freiheit Scharen des Geistes Schwert, des Rechts Panier.“
Man müsse nur die Seiten 372 und 373 des Hitler-Buchs „Mein Kampf“ lesen um zu wissen, dass die ‚Boxheimer Dokumente’ den inneren Kern des Nationalsozialismus bloßgelegt hätten. Der beruhe auf den nackten, brutalen Mitteln des Terrors und der Gewalt. Nach dieser schonungslosen Entlarvung hatte Widmann nach der Machtübernahme von den Nazis keine Gnade zu erhoffen.
Ein letztes Mal ergriff der mutige Mann am Grab Carl Ulrichs das Wort. Im Auftrag des SPD-Parteivorstandes und des SPD-Landesvorstandes gedachte er der Verdienste Carl Ulrichs und legte als äußeres Zeichen des Gedenkens einen prächtigen Kranz an der Bahre nieder.
Nach dem 1. Mai und dem Sturm auf Partei- und Gewerkschaftshäuser griffen die Nazis zu und schleppten Widmann in das KZ Osthofen. Über ihn, seine Familie, seine Freunde und seine Partei senkte sich – wie über ganz Deutschland - die Nacht der braunen Barbarei.
Noch eben rechtzeitig konnte Widmanns Schwiegersohn Theodor Geh die politische Literatur und gefährliche Unterlagen im Haus Hölderlinstr. 26 vor der Brandmauer mit einer zusätzlichen Wand einmauern. Nach dem 2. Weltkrieg wurden alle Papiere an Heinrich Ritzel übergeben, der darüber ein Buch schreiben wollte. Im Ritzel-Nachlass in Bad Godesberg konnten sich allerdings diese Papiere nicht finden. Ich stütze mich deshalb im Folgenden auf die Erinnerung Günther Gehs. Danach kamen während der Nazizeit die alten Freunde nur gelegentlich zu gemütlichen Treffen bei Burkhard oder Zilch in Bieber oder im Cafe Metz im Frankfurter Sandweg zusammen. Schon öfter trafen sich Eißnert, Weber und Widmann, manchmal auch Marsch aus Bieber in den Wohnungen Eißnerts und Webers und vor allem bei Widmanns in der Hölderlinstraße.
Dank seiner kaufmännischen Erfahrung half Leonhard Eißnert einigen seiner Parteifreunde, die 1933 nach der Machtübernahme der Nazis vor dem Nichts standen, bei ihren Versuchen, sich neue Existenzgrundlagen zu schaffen. So beriet Eißnert Weber bei der Einrichtung eines Kiosks. Widmann half er einen kleinen Tabakladen im Kleinen Biergrund einzurichten. Der Laden musste aber nach wenigen Monaten geschlossen werden, weil während der Öffnungszeiten ständig SA-Leute auf und ab gingen, sodass sich kaum jemand traute, den Laden zu betreten.
Am 22. August 1944 wurde Widmann wie viele andere Demokraten im Rahmen der Aktion „Gitter“ erneut verhaftet und – sicher auch wegen seiner Freundschaft zu Wilhelm Leuschner- ins KZ Dachau verschleppt. Zusammen mit den Offenbachern Weyprecht und Weber wurde er im Dezember 1944 aus Dachau entlassen.
Eine sehr persönliche Seite Widmanns, seine Empfindsamkeit und Korrektheit zeigte der mittlerweile fast 70-jährige in seinem Schriftwechsel mit Heinrich Ritzel. Im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bad Godesberg finden sich in Ritzels Nachlass Briefe der beiden Freunde aus den Jahren 1946 – 1948, die ein Licht auf die Situation der Menschen in diesen Jahren werfen.
Ritzel, ein geborener Offenbacher, war in der Weimarer Zeit Bürgermeister in Michelstadt, Landtagsabgeordneter und Reichstagsabgeordneter. Er war den Nazis entkommen und saß als Flüchtling in der Schweiz. Als Sekretär der Europa-Union ging es ihm vergleichsweise gut, sodass er vielen Deutschen mit Lebensmittelpaketen helfen konnte.
Aus dem politischen Leben, an dem Widmann nun keinen Anteil mehr hat, berichtet er seinem Freund: „am 24. Februar 1947 wurde Oberbürgermeister Rebholz in sein Amt eingeführt. Ich habe von Rebholz selbst eine Einladung erhalten. Die Feier fand in der Synagoge statt. Über die letzten Jahre Widmanns ist wenig bekannt. Politisch hat er sich anscheinend nicht mehr betätigt.
Er starb am 18. Mai 1955 nach kurzer Erkrankung im 79. Lebensjahr in Offenbach. In der Todesanzeige heißt es: „Mit ihm ist ein Sozialist von uns gegangen, dessen Leben erfüllt war vom Kampf für Frieden, Freiheit und Menschenrechte.“ Im Nachruf des SPD-Unterbezirks steht: „Sein ganzes Leben hat Widmann der Idee gewidmet, das Leben der sozial Abhängigen zu verbessern. Sein rastloser Einsatz als Landessekretär, als Landtagsabgeordneter, als Gewerkschafter kannte nur eine Parole: vorwärts im Sinne des demokratischen Sozialismus.“
Trotz des vollen Einsatzes für seine Ideale erinnert sich in Offenbach kaum jemand an ihn. Kein Denkmal, keine Brücke, keine Straße trägt seinen Namen. Bei der Spurensuche nach anderen Abgeordneten seiner Zeit wie Ulrich, Kaul oder Eißnert stieß ich immer wieder auf den Namen Wilhelm Widmann. Also stellte sich die Frage: Wer war dieser Mann? Erste Antworten gab sein Enkel Günther Geh.
Auf der SPD-Vorschlagsliste für die Wahl zur verfassunggebenden Volkskammer stand Widmanns Name auf Platz 29.[1] Damit war er war einer von fünf Offenbachern, die am 27. Januar 1919 in die Volkskammer des Volksstaates Hessen (Darmstadt) gewählt wurden. Bis 1933 war er im Landtag ein sehr engagierter Sprecher.
Die Sprechregister und Wortlautprotokolle der Hess. Volkskammer bzw. des Landtages waren deshalb die wichtigen Quellen. Weitere Quellen fanden sich im Offenbacher Stadtarchiv, im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt, in der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt und im Archiv der sozialen Demokratie in Bad Godesberg; auch im Offenbacher Abendblatt, der sozialdemokratischen Tageszeitung, fanden sich zahlreiche Hinweise auf Widmanns Arbeit.
Wilhelm Widmann wurde 30. Dezember 1876 in Esslingen geboren. Er erlernte bei WMF den Beruf des Gürtlers. 1892 trat er mit 16 Jahren dem Metallarbeiterverband (DMV) bei und wurde Mitglied im örtlichen Sozialdemokratischen Verein.
Gegen Ende des Jahrhunderts wanderte er nach Amerika aus, kehrte aber nach drei Jahren nach Deutschland zurück.
[1] S. Offenbacher Abendblatt (OA) 30.1.1919
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